Wie wir uns selbst in anderen erkennen
Manchmal muss man einfach mal einen Schritt zurücktreten… loslassen… und in den Wald gehen… lieber auf einen Berg, aber manchmal reicht die Zeit nicht, dann tut’s auch der Wald.

Ich folge auf Instagram einer Frau, die mit ihrer Sucht kämpft und ihren Kampf in ihrem Instagram-Profil dokumentiert. Bei ihr sind es aber härtere Substanzen als bei mir und sie hat wie es aussieht, mehr Shit im Leben zu bewältigen. Doch darum soll es hier nicht gehen, es ist kein Wettbewerb, wer das härtere Los gezogen hat. Und wenn wir uns mit dem Thema Sucht wirklich in der Tiefe befassen, erkennen wir, dass die Mechanismen dahinter immer dieselben sind. Mir hat das Buch „im Reich der hungrigen Geister“ von Dr. Gabor Maté so vieles klar gemacht, durch ihn… durch dieses Buch habe ich meine Sucht erst richtig zu verstehen begonnen. Aber zurück zum Thema.
Kürzlich hatte sie in einer Story gepostet, dass sie von einer Person auf Instagram übel angegangen wird. Wirklich aufs Härteste beleidigend, der pure Hass schlägt ihr da entgegen und das macht sie ziemlich fertig. Ich habe ihr eine Nachricht gesendet, doch sie hat die Nachricht (noch) nicht gelesen. Sie hat extrem viele Follower und wird wahrscheinlich mit Nachrichten überschüttet. Egal… folgendes habe ich ihr geschrieben:
„Siehst du nicht, dass es dieser Person in Tat und Wahrheit viel dreckiger geht als dir? Du kannst solchen Menschen nur mit Liebe begegnen, denn was du bekämpfst, machst du nur stärker, glaub mir. Liebe ist die einzige Antwort, immer. Auch und vor allem dir gegenüber.“
Für mich ist klar, dass wenn ich mit meiner Geschichte raus gehe, gerade auf Social Media, dass ich dann vollkommen mit mir im Reinen sein muss. In der Liebe sein. Liebe ist nicht etwas das man tut, sondern ein Seinszustand. Bin ich das nicht, bin ich zu verletzlich und somit angreifbar… Dann kann das Ganze rasch zu einem Bumerang werden. Und als süchtiger Mensch muss man sich und seine Sucht bedingungslos annehmen. Also sich selbst in Liebe begegnen.
Wir ziehen an, was wir aussenden
Wenn man mit sich im Reinen ist… in der Liebe ist… und das, was man tut aus der Liebe heraus tut, dann spielt es keine Rolle, ob es Leute gibt, die einem Hass entgegenbringen. Wobei, ich glaube, dann wird man gar keinen Hass auf sich ziehen können. Wir ziehen das an, was wir selbst aussenden – das Universum reagiert exakt auf die Energie, die man aussendet. Und wenn man nicht in der Liebe ist, antwortet das Universum eben auch nicht mit Liebe.
Oder nochmals anders; da sie sich selbst verurteilt, zieht sie genau die Menschen an, die sich selbst auch verurteilen. Und seien wir mal ehrlich, kein Mensch ist ein Arschloch, weil er es geil findet ein Arschloch zu sein.
Nun ist es als süchtiger Mensch besonders schwierig sich selbst in Liebe zu begegnen, weil man sich grundsätzlich – die meisten jedenfalls – erst mal selbst verurteilt. Bei ihr sehe ich das ganz besonders deutlich, ihr Account heisst „nicht_geschafft_noch_da“. Darin schwingt schon die (Selbst-) Verurteilung mit… “nicht geschafft”. Und so ist es – aus meiner Sicht – ein sehr schwieriges Unterfangen, seine Geschichte auf Sozialen Medien zu dokumentieren… denn so, unter dieser Voraussetzung, in diesem Zustand der Selbstverurteilung, können einen solche Anfeindungen unheimlich stark verletzen.
Weisst du, was der erste Schritt in den 12-Schritte-Programmen der Anonymen Alkoholiker ist? Sich einzugestehen, dass man der Sucht gegenüber machtlos ist. Klingt doof, ist aber das einzig Richtige, wenn man das Thema Sucht in seiner ganzen Tiefe versteht. Denn in der Tiefe ist es eben nicht die Substanz und die Sucht danach, sondern etwas das tiefer in der Psyche, der Persönlichkeitsstruktur verborgen liegt. Sich einzugestehen, dass man der Sucht gegenüber machtlos ist, bedeutet im Endeffekt sich selbst mit Liebe zu begegnen, sich nicht mehr dafür zu verurteilen, dass man süchtig ist. Erst aus diesem Zustand heraus hat man wirklich eine Chance.
Wie ich bereits in meinem letzten Blogpost, Teil 3 meiner Reihe zu Sucht und Drogen ganz kurz angetönt habe, ist es nicht die Sucht, die es zu bekämpfen gilt – bekämpfen sowieso nicht, denn; das, was man bekämpft, wird grösser. Die Sucht an sich ist nur ein Symptom für etwas… die „Krankheit“ ist nicht die Sucht, sondern das Trauma, das der Sucht zu Grunde liegt. Und darum gilt es, nicht die Sucht an sich zu bekämpfen, sondern das Trauma aufzuarbeiten. Dann wird sich das mit der Sucht ganz von allein klären.
Ich tue das ja für mich… oder…?
…und dann gilt es sich die Frage zu stellen, was der Grund dafür ist, dass man so einen Kanal betreibt. Will man seine Geschichte effektiv teilen, um anderen zu helfen? Oder gibt man sich damit nicht auch grad wieder selbst einen Sinn… eine Bestimmung im Leben… versucht die Leere zu füllen, die man mit der Droge zu füllen versucht hat… steckt dahinter nicht genau derselbe Mechanismus, der hinter der Sucht steckt? Und damit meine ich nicht nur sie, die diesen besagten Kanal betreibt… sondern auch mich selbst und meinen Blog… wieso tue ich das hier?
Angefangen habe ich effektiv, weil ich immense Freude daran habe zu schreiben. Und weil es für mich auch ein Mittel ist, Dinge aus meiner Vergangenheit zu verarbeiten, Dinge ins Bewusstsein zu holen… zu Heilen. Vor allem mich selbst. Und aus dem Buch „Gespräche mit Gott“ von Neale Donald Walsch (absolute Leseempfehlung!) habe ich einen Satz mitgenommen, dessen wahre Bedeutung ich erst seit Kurzem wirklich verstehe… einen Satz, den man nur versteht, wenn man nicht aus seinem Ego, sondern aus seinem wahren So-Sein heraus lebt: „Wenn du das Beste für Dich selbst tust, tust du auch das Beste für alle anderen“. Aber was heisst denn jetzt genau, das Beste für mich selbst tun?
Angst oder Liebe?
Es gibt zwei Emotionen… also Emotionen im Sinne von „Gemütsbewegung“… sagen wir besser „grundlegende Seinszustände die das eigene Handeln bestimmen“, die da sind Liebe und Angst. Was man aus Liebe tut, tut man um der Sache willen, weil sie einem reine Freude bedeutet… die Tätigkeit die man abends unterbricht weil man müde ist, sich ins Bett legt und sich bereits freut am nächsten Tag weiterzumachen… oder eben aus Angst, weil man es tun muss… weil es die eigene (Ego-) Persönlichkeit verlangt… weil man sich dadurch definiert… oder weil man es braucht um sich besser… oder gut zu fühlen.
Wieso tue ich das hier?
Und so muss ich mich selbst immer wieder an der Nase nehmen. Will ich jetzt wirklich schreiben, oder habe ich das Gefühl ich müsste schreiben. Die letzten Tage, nach Teil 3 zu meiner Suchtgeschichte, war ich getrieben. Ich wollte unbedingt weitermachen, den nächsten Blogbeitrag schreiben, ich dachte ich müsste schreiben. Es wurde zum Stress… ich konnte nicht mehr gut schlafen (ok, das hat auch mit dem THC-Entzug zu tun). Fing einen Beitrag nach dem anderen an, nur um ihn sogleich wieder zu verwerfen. Ich war in der Angst. Der Blog war zu einem Teil meiner Ego-Persönlichkeit geworden… und so quasi zu einem neuen Suchtmechanismus. Das Ego ist immer bedürftig, das ist seine Natur. Und darum kann ein Ego nie frei sein… ach, da sind wir schon wieder beim Ursprungsthema dieses Blogs… witzig, nicht?
Loslassen… und durchstarten!
Gestern Morgen wachte ich auf. Nicht aus dem körperlichen Schlaf, sondern aus der Unbewusstheit. Und ich liess los… den Blog, das Instagram-Profil. Ich kümmerte mich mal um einige administrative Angelegenheiten in meinem Leben. Dann ging ich in den Wald, ohne Handy… und spazierte… kreuz und quer durch den Wald… umarmte Bäume… stand irgendwo mitten im Wald und meditierte… atmete… lange, sehr lange. Und dabei entstand ganz plötzlich dieser Blogbeitrag in meinem Kopf. Einfach so… aus dem Nichts… oder doch nicht aus dem Nichts… aus MIR… aus meinem So-Sein und nicht aus meinem Ego, das sich in dieses Blogprojekt verbissen hatte. Ich habe ihn (den Artikel) sogleich wieder losgelassen – jetzt war Zeit für MICH. Und erst später, nachdem ich noch eine kleine Freudenfahrt mit meinem Auto gemacht und ein heisses Bad genommen hatte, kam die Lust, den Laptop hervorzuholen und diesen Beitrag zu schreiben. Und er schrieb sich einfach wie von selbst, floss quasi durch mich hindurch. Innert kürzester Zeit. Ohne zu denken… klar, heute habe ich das Ganze noch etwas gegliedert, orthografisch und grammatikalisch etwas verfeinert. Aber der Inhalt, und das ist das Wichtige, der kam einfach so aus mir heraus.
Post scriptum
Wenn nun die Inhaberin des Instagram-Profils das ich eingangs erwähnt habe, diesen Artikel lesen würde… was würde sie hineininterpretieren, wenn sie in der Angst ist… und was, wenn sie in der Liebe ist?